Vor 50 Jahren Als FCM-Held Jürgen Sparwasser Westdeutschland erschütterte
1974 war das Jahr überhaupt für Jürgen Sparwasser: Erst der der sensationelle Europapokal-Sieg mit dem 1. FC Magdeburg und kurz darauf der Triumph über den westdeutschen Fußball. Ein Rückblick in die Vergangenheit.
Bonn/Hamburg/KNA/DUR/nc - Manchmal ist Geschichte in einem einzigen Moment kondensiert, auf einem einzigen Bild fixiert. Wer damals ein Pimpf von ein paar Jahren und aus dem Westen war, der musste unweigerlich die Seite 45 von Harry Valeriens offiziellem WM-Buch 1974 aufschlagen; immer und immer wieder. Da ist dieses Schwarz-weiß-Foto; doppelseitig, irgendwie schrecklich, leicht verschwommen. Pure Emotion.
Sepp Maier, die „Katze von Anzing“; auf den Knien. Die Augen aufgerissen in Fassungslosigkeit, so als könnte er die historische Tragweite des Augenblicks schon in diesem Bruchteil einer Sekunde begreifen. Eine Interpretation von Edvard Munchs „Der Schrei“.
Noch ist der Ball in der Luft; noch stochert Berti Vogts ihm mit einer vergeblichen Grätsche hinterher. Der Oberkörper von Jürgen Sparwasser pendelt aus nach seinem Schuss. Er schaut als einziger hoffnungsvoll in Richtung Tor. Und er trägt als einziger ein anderes Trikot als die anderen.
Es war doch nur ein Spiel
Heute, 50 Jahre später, könnten sich die kleinen Jungs aus dem Westen von einst entspannt zurückzulehnen und sagen: Es war doch nur ein Spiel - und wir haben ihn doch geholt, den WM-Pokal; den neuen, goldenen von Silvio Gazzaniga, der damals zum allerersten Mal vergeben wurde.
Doch heute wissen alle: Am 22. Juni 1974 im Hamburger Volksparkstadion, da war niemand entspannt, keiner zurückgelehnt.
Lesen Sie auch: Fünf Dinge beim FCM-Triumph 1974, die heute so undenkbar wären
Ein Fußball-Länderspiel, das erste und einzige offizielle zwischen den beiden Deutschlands und noch dazu bei der WM in (West-)Deutschland - das ist der Kampf der Systeme. „Ekel Alfred“ vom WDR versus Karl-Eduard von Schnitzler vom „Schwarzen Kanal“ der DDR. Auch wenn schon vor dem abschließenden Gruppenspiel feststeht, dass beide deutschen Teams in die Zwischenrunde einziehen werden.
Dennoch erstaunlich, wie schlecht die Titelfavoriten aus dem Westen schießen; schablonenhaft, ideenlos, matt wie eine abgestandene Limonade. Vergleichbar vielleicht mit den Auftritten der DFB-Elf seit dem Titelgewinn 2014: Die Papierform sagt klarer Sieg - doch die Leistung: eine reine Enttäuschung.
FCM-Spieler Sparwasser trifft und Maier starrt
Und die DDR-Elf nutzt die Chance, die ihr eigentlich niemand zugetraut hat: Als alle schon mit einem zähen 0:0 rechnen, wird in der 77. Minute Jürgen Sparwasser (26), frischgebackener Europapokal-Sieger mit dem 1. FC Magdeburg, über rechts von Erich Hamann mit einem langen Ball im Zentrum angespielt. Er kreuzt, umkurvt seinen zu weit entfernten Gegenspieler Höttges, verzögert noch mal und netzt dann ein. Und Maier starrt.
Die BRD, besiegt und gedemütigt. Der „Ostblock“ hat wieder zugeschlagen. Geschlagen wie Uwe Seeler und Lothar Emmerich durch jenes „Wembley-Tor“ im WM-Finale von 1966, das keines war - oder doch? 1966 war es ein sowjetischer Linienrichter, Tofik Bachramow, der den Deutschen noch einmal ihre historische Schuld aufs Brot schmierte, indem er den scharfen Schuss von Geoff Hurst nach dessen Lattentreffer hinter die deutschen Linien verlegte.
1974 waren es Deutsche, die die BRD-Elf samt Anhang zerlegten: Sepp Maier, Berti Vogts und all die kleinen Jungen mit dem zerfledderten WM-Buch.
Helden und Randfiguren
Die Sache ist ja am Ende aus westdeutscher Sicht gut ausgegangen - und Franz Beckenbauer, der Maier Sepp und Berti Vogts bekamen kurz darauf den Weltmeisterpokal überreicht. Ebenso schön: Das deutsch-deutsche Drama von 1974 ist heute entdramatisiert, versöhnt.
Ungezählte TV-Dokus gibt es, in denen sich Helden wie Randfiguren von damals an Anekdoten erinnern: an die Anreise, die Unterkunft, an Sicherheitsvorkehrungen, Lieblingsessen, an gegenseitiges Verstehen und Missverstehen.
Lesen Sie auch: Söhne der Stadt: Diese Fußballer sind in Magdeburg geboren
Der Sportjournalist Ronald Reng hat zum 50-Jahr-Jubiläum sogar ein über 400 Seiten starkes Buch über „Eine deutsche Begegnung“ verfasst; geradezu ein deutsch-deutsches Panorama dieser Jahre.